KÖRPER & GEIST
Der moderne Mensch denkt rational, er liebt die Logik. Nur allzu gern vergisst er, daß er abstrahiert, ein subjektives, unvollständiges Abbild der Realität bastelt. Wir brauchen diese Vereinfachung, um überlebensfähig zu sein. Die Gefahr ist jedoch, daß wir selbst diese Illusion zur Realität küren und sie egozentrisch leben. Klar definierte Bestandteile, festgeschriebene Wirkungszusammenhänge. Das ist leicht nachvollziehbar, einfache Kausalitäten machen das Leben einfach. Rote Ampel stehen, grüne Ampel gehen. Daneben gibt es noch unendliche viele Schilder die uns sagen, was wir zu tun haben. So ist das auch mit dem gängigen Modell Mensch. Wir haben einen Körper und einen Geist,der sitzt im Gehirn. Dieser Zellhaufen steuert unseren Körper und kann denken. Wir können ihn fokussieren, nach außen und nach innen, unserem Atem folgen, uns selbst wahrnehmen. Wir haben ein Unterbewußtsein und ein Bewußtsein, das wir auch schärfen können, indem wir meditieren und es frei von störenden Gedanken machen. Nun sind wir im Augenblick angekommen. Schön und einfach, gell! Aber ist das wirklich alles? Nein. Selbst wenn wir alle möglichen Blickwinkel in Betracht ziehen würden und ein sehr komplexes Modell basteln würden, es ist und bleibt eine Abstraktion der Wirklichkeit. Viele großen Denker haben sich schon mit diesem scheinbaren Dilemma auseinander gesetzt. Es verliert aber deutlich an Dramatik, wenn wir uns dessen bewußt sind und uns damit abfinden, daß wir einfach beschränkt sind.
Im Aikido beginnen wir in gewohnten Bahnen, um zu verstehen. Es gibt uns als Individuum, einen "Angreifer" (Uke), einen "Verteidiger" (Nage) und furchtbar viele Techniken. Im Lauf der Jahre lernen wir mehr und mehr über unseren Körper und unseren Geist, über ihr Zusammenspiel, über Hebel, Bewegung, Physik im Allgemeinen. Oft sind wir geistig überfordert und stoßen an die Grenzen unserer Beweglichkeit. Doch wir lernen auch eins, daß wir nur das sind was wir denken und wir spüren im Zusammenspiel mit unserem Trainingspartner, daß wir seinen Körper zu unserem machen können. Das größte Problem dabei ist, daß wir das nicht wollen dürfen ;), weil wir sonst wieder auf unserer definierenden mentalen Ebene ankommen. Es wird oft über Chi gesprochen, es wird auch belächelt. Na ja, zumindest aus der Sicht eines Aikidokas kann ich mir inzwischen ziemlich genau vorstellen, was damit wohl gemeint ist: der perfekte Augenblick. Du siehst nichts, du hörst nichts, du definierst nichts, da ist nur dieses Gefühl: du wirst eins mit dem Uke, seiner Bewegung, seiner Energie. Dieses schmale Band der Verbindung hält so lange Du bei ihm bist und seiner "Welle" folgen kannst. Dafür brauchen wir einiges an körperlicher und geistiger Schnelligkeit und Beweglichkeit. Verlieren wir den Draht, kann der Uke zum Nage werden und den Moment nutzen, um dieses Spiel zu übernehmen und auf dynamische Art und Weise zu Ende zu bringen.
Wir können unser Selbst mehr und mehr auf die Gesamtsituation ausdehnen, weil die gelernten Techniken und Bewegungsmuster tief ins Unterbewußte abgesunken sind, sich unser Körper automatisch richtig positioniert und reagiert, um in den Flow zu kommen. Der Weg dahin dauert natürlich ein Weilchen ;). Wer dabei bleibt wird aber nicht nur seinen Körper immer intensiver und detailreicher wahrnehmen, sondern auch erfahren, was Bewegungsenergie und Gravitation ist. Last but nötig least natürlich die Bedeutung einer stabilen Mitte, um die sich sprichwörtlich alles dreht.
Diese neue Sichtweise eröffnet uns völlig neue Möglichkeiten im Umgang mit uns selbst und unserem Umfeld. Im Privaten, wie im Geschäftlichen lernen wir die Vorteile dieser Harmonie kennen. Vieles geht schneller und leichter von der Hand, weil wir ganz aikidolike nicht die Konfrontation suchen, sondern eine "stabile" Position beziehen, aufmerksamer, schneller und zentrierter werden, Aggression mit Gelassenheit beantworten und elegant "weiterleiten" lernen. Kurz um: es ist schön im Augenblick zu sein!